Gelassen und fast perfekt wird mein Onkel nie werden
Vor kurzem war ich bei Onkel Eugen eingeladen. Er ist soweit recht nett und umgänglich. Ein angesehener Mitarbeiter im mittleren Management einer größeren Organisation. Mein Onkel legt sehr großen Wert auf Stil, Ordnung und Perfektion. Und versucht diese Haltung auch seinem Neffen (sprich mir) seit Jahren beizubringen. Er ist in der Familie wegen seiner Neigung zur Perfektion nicht gerade beliebt. Gelassen und fast perfekt ist meinem Onkel zu wenig.
Bei meinem Besuch wirkte mein Onkel auf mich ziemlich aufgewühlt, abgelenkt und ein wenig ungehalten. Was ging in ihm vor?
Nach dem Essen sprach ich ihn direkt auf seine Stimmung an. Ich hatte den Eindruck, er war richtig froh mit mir darüber reden zu können.
Vorgestern war es passiert. Eine Seite seines Zauns um den Garten wurde neu gestrichen. Nur leider passte die neue Farbe nicht ganz genau zum Anstrich auf der anderen Seite des Zauns. Der Handwerker hatte meinen Onkel wohl darauf hingewiesen, dass es zu Unterschieden in der Farbnuance kommen wird. Mein Onkel sah aber erst nach vollendetem Werk das Malheur.
Und jetzt beschäftigt das meinem Onkel die ganz Zeit. Er fühlt sich richtig unwohl bei dem Gedanken, dass sein Zaun zwei unterschiedliche Brauntöne aufweist.
Ich versuchte ihn zu beruhigen: „Aber Onkel Eugen, der Zaun ist doch wunderschön, und den anderen Farbton merkt ohnehin keiner, das ist doch um die Ecke. Freue dich lieber über den neu gestrichenen Zaun.
Mein Onkel fragt sich aber, warum ihm das passiert sei, er hätte besser aufpassen müssen. Er wird den Handwerker auf Schadenersatz und Wiedergutmachung klagen. Er war nicht zu beruhigen.
Und jetzt wagte ich etwas.
Ich sagt: “Lieber Onkel Eugen, du weißt doch, dass du in der Familie nicht besonders beliebt bist?“ Er meinte: „Ja, wahrscheinlich ist der Grund mein Perfektionsdrang. Aber was soll ich tun? Ich kann nicht anders.“
Ich meinte respektvoll zu ihm: „Die Fixierung auf Mängel macht es dir schwer, freundlich und beliebt zu sein. Natürlich gibt es für fast alles immer eine bessere Lösung oder einen besseren Weg, dies bedeutet jedoch nicht, dass du die Dinge, so wie sie sind, nicht genießen und würdigen kannst. In unserem Fall eben den neu gestrichenen Zaun.
Und ich erinnere mich noch genau an andere Situationen von früher. Wo du oft nur auf das geachtet hast, was dir nicht gefällt. Ob es ein unaufgeräumter Schrank war, oder ein Kratzer am Auto, eine verspätete Lieferung deines Geschirrspülers, oder die paar Kilo zu viel um die Hüften von meiner Tante. Und natürlich hast du auch mich öfter bemängelt, wie ich zum Beispiel mit meiner Freundin lebe, wie sie aussieht, wie sie sich verhält und ein paar andere Sachen. Wir sind eben gelassen und fast perfekt.
Entschuldige, wenn ich so offen bin, aber wenn du immer darauf bestehst, dass etwas so oder so zu sein habe, also besser als es schon ist, dann kämpfst du unweigerlich auf verlorenem Posten. Statt zufrieden und dankbar zu sein, für das was du hast, bist du fixiert auf das, was dir mangelhaft erscheint sowie auf deinen Drang, es in Ordnung zu bringen.“
Es dauerte fast fünf Minuten bis mein Onkel mit einem tiefen Seufzer antwortete: „So deutlich hat mir das noch keiner gesagt. Aber du hast recht, ich konzentriere mich zu sehr auf das, dass etwas anders zu sein hat als es momentan ist. Ich danke dir. Ich werde heute Nacht viel darüber nachdenken. Morgen rufe ich dich an. Dann vereinbaren wir einen Termin für ein Familienfest mit allen. Das machen wir gelassen und fast perfekt.“
Mein Onkel lacht. Er war mir dankbar für meine Worte.
Ab nun hatte ich einen neuen Onkel. Gelassen und fast perfekt.
Resümee
Ich habe das von meiner Großmutter gelernt. Ohne „verbesserungssüchtige“ Einstellung ist tatsächlich alles gut. Sie meinte öfter: „Unterdrücke dein aufkommendes Bedürfnis nach Perfektion in allen deinen Lebensbereichen und du wirst die vorhandene Vollkommenheit im Leben selbst schnell entdecken.“
Wie ist das mit eurer Großmutter und eurem Onkel? Oder anderen Zeitgenossen?
Schreibt mir bitte eure Ansichten und Erlebnisse.
Ric